Freundeskreis

Laudatio von Dr. Peter Michel zur Verleihung des Menschenrechtspreises der GBM

Die Verhältnisse durchschaubar machen
Laudatio zur Verleihung des Menschenrechtspreises der GBM an Heidrun Hegewald, Willi Sitte und Walter Womacka am 10. Dezember 2009


Dr. Peter Michel, Berlin

Im Dezember 1937 richtete Thomas Mann – aus seinem schweizerischen Exil – eine Botschaft an amerikanische Künstler, die sich zu einem antifaschistischen Kongress zusammengefunden hatten. »Man hört sagen«, schrieb er, »der Künstler solle bei seinem Leisten bleiben und vergebe sich etwas, wenn er ›in die politische Arena hinabsteige‹, um sich an den Kämpfen des Tages zu beteiligen. Ich halte diesen Einwand für hinfällig eben in der Überzeugung, oder vielmehr in der klaren Erkenntnis von der Untrennbarkeit der Sphären des Menschlichen, mögen sie nun Kunst, Kultur oder Politik heißen.« (1) Diese »klare Erkenntnis« bestimmt auch das Verhältnis unserer Menschenrechtsorganisation zu zahlreichen Künstlern aller Bereiche; und der Entschluss, heute Prof. Willi Sitte, Heidrun Hegewald und Prof. Walter Womacka mit unserem Menschenrechtspreis zu ehren, hat in dieser Erkenntnis seine Grundlage.

Alle drei sind als Maler und Graphiker ihr ganzes bisheriges Leben lang untrennbar mit dem verbunden, was sie an Widersprüchen, Schönheiten, Schändlichkeiten und Leidenschaften in ihrem großen und kleinen Umfeld umgab und umgibt. Künstlerisches und gesellschaftliches Engagement sind bei ihnen auf selbstverständliche Weise eins. Das hat seine Ursachen in den Biografien.

Krieg und Nachkrieg prägten ihr Leben entscheidend. Heidrun Hegewald erlebte als Kind im Flammeninferno Dresdens, wie ihr heimatliches Haus in Schutt und Asche sank. Walter Womacka und Willi Sitte wurden in Naziuniformen gepresst und verloren durch die unermessliche Schuld des faschistischen Deutschland ihre böhmische Heimat. Für Walter Womacka endeten der Krieg in amerikanischer Gefangenschaft und der Nachkrieg mit der Entscheidung, aus Braunschweig in die gerade gegründete Deutsche Demokratische Republik überzusiedeln. Willi Sitte kämpfte in Italien an der Seite der Partisanen; auch er entscheid sich für ein Leben im Osten Deutschlands.

Alle drei beeinflussten mit ihrer Kunst in starkem Maße das spezifische Erscheinungsbild der »anderen Moderne« in der DDR und nach 1990 in Ostdeutschland. Ja, wir sind so frei, den Terminus der Moderne für uns zu besetzen, so wie das unser Freund Prof. Peter H. Feist bereits vor einigen Jahren praktizierte, und ihn nicht jenen zu überlassen, die heute mit höchstem Aufwand Gleichgültigkeiten empormanipulieren. Und wenn von Avantgarde die Rede ist, so steht das Werk dieser drei Künstler paradigmatisch für den eigentlichen Inhalt dieses Begriffs.

Alle drei leiden nicht an dünkelhaftem Hochmut dem Betrachter gegenüber; sie suchen den Dialog mit ihm und nehmen ihn ernst; sie entfernen sich nicht von ihm, bauen auch auf seine Erfahrungen und fordern ihn.

Alle drei erlebten Demütigungen: Heidrun Hegewald mit der Nichtachtung ihrer künstlerischen Arbeit durch selbsternannte Kunstrichter, durch den Verlust ihres in vielen Jahren mühevoll den eigenen Bedürfnissen angepassten Ateliers, durch den Zwang, heute auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Walter Womacka durch die Zerstörung seiner besten Wandbilder beim Abriss des Außenministeriums der DDR oder durch das schließliche Verweigern seiner Eintragung ins Goldene Buch Eisenhüttenstadts durch den inzwischen abgewählten Bürgermeister – und Willi Sitte durch die unsäglichen Vorgänge um seine langfristig geplante und schließlich verbotene Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Von allen drei Künstlern wurden in Dresden und andernorts nach dem November 1989 Werke aus den Präsentationen der Galerien entfernt und in die Depots verbannt. Das sind Schandflecke, die so schnell nicht von der polierten Oberfläche der deutschen Kulturnation zu beseitigen sind.

Doch es gibt auch die unübersehbaren Zeichen herzlicher, achtungsvoller Verbundenheit und aktiver Solidarität. Walter Womacka erfährt sie durch das Wirken seines Freundeskreises und die erfolgreichen Mühen von Kulturverantwortlichen in Berlin-Mitte und Eisenhüttenstadt, seine baugebundenen Werke zu restaurieren und unter Denkmalschutz zu stellen. Heidrun Hegewald hat in unserem Freundeskreis »Kunst aus der DDR«, im ANTIEISZEITKOMITEE, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im Berliner Kulturverein »Helle Panke« Partner, die ihr Werk präsentieren und verbreiten helfen, nicht nur ihre Bilder, sondern auch die klugen, anspruchsvollen Texte, mit denen sie in den vergangenen zwanzig Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit trat. Willi Sittes Werk fand in der neuen Merseburger Galerie eine Heimstatt. Stiftungsrat, Stadt und weitere Partner leisteten bei der Einrichtung eine hervorragende Arbeit, und das tun sie auch heute. Als diese Galerie eingeweiht wurde, warnten Ministerpräsident Böhmer und Exbundeskanzler Schröder davor, die Arbeit von Künstlern mit der billigen tagespolitischen Elle zu messen. Solcherart Vernunft ist nötig, um die viel beschworene innere Einheit der Deutschen zu entwickeln, von der wir noch so weit entfernt sind; doch diese Mahnung vergessen auch die gegenwärtig Mächtigen immer mehr.

Der Aachener Kunstmäzen Peter Ludwig schrieb am 2. Juni 1990 an Walter Womacka: »Bleiben Sie, wie Sie sind!« Alle drei sind sich treu geblieben. Sie haben ihre Biografien nie verbogen. Sie ließen sich ihre Würde nicht nehmen, denn alles, was sie seit ihrer Kindheit bis heute erlebten und erkannten, sitzt viel zu tief und fest in ihnen.

Alle drei meldeten sich – nicht nur mit ihren Bildern, sondern auch in öffentlichen Auseinandersetzungen und in ihren Publikationen – politisch mutig zu Wort; Heidrun Hegewald z.B. in ihrem Buch »Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen«, in ihrem Hörbuch »Land – dreimal anderes« oder in zahlreichen Beiträgen in Zeitschriften und anderen Medien, Walter Womacka und Willi Sitte u. a. in ihren Autobiografien »Farbe bekennen« und »Farben und Folgen«.

Was sie eint, ist ihre Haltung. Was sie unterscheidet, ist ihre künstlerische Sprache. Für jeden ist sie unverkennbar. Doch auch sie hat ein Gemeinsames, das bei allem Eigensinn als Fundament unerschütterlich ist: Es ist die Entscheidung für einen reichen, differenzierten Realismus, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht – in der Gänze seines Lebens und Erlebens, seines Glücks und seines Schmerzes. Alle drei machen mit ihrer Kunst Menschen, Dinge und Verhältnisse durchschaubarer, verdeutlichen Ursachen und Hintergründe. Alle drei begreifen Gegenwart und Zukunft aus der Geschichte. Ihre Werke sind dem Menschen gemäß und seinen grundlegenden Rechten. Zugleich sind sie Fortsetzung kunstgeschichtlicher Tradition. Willi Sitte, Heidrun Hegewald und Walter Womacka fragen nach ihren Wurzeln und leugnen sie nicht. Sie spielen das Spiel nicht mit, nach dessen Regeln angeblich stets das Neue das Bessere ist, um marktkompatibel zu sein. Heidrun Hegewald entdeckte mit ihrer ganz eigenständigen Kunst den Geist der Käthe Kollwitz durch sich selbst. Willi Sittes Werk entstand stets im Dialog mit den Großen der Kunstgeschichte bis hin zur Klassischen Moderne. Das ist bei Walter Womacka ganz ähnlich; zu seinen vielen imaginären Gesprächspartnern gehören Pablo Picasso, Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros.

Als wir im Januar dieses Jahres eine Personalausstellung Willi Sittes in unserer Galerie in der Berliner Weitlingstraße eröffneten, bezeichnete ich sein großes, mehrteiliges Gemälde »Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit« als ein Programmbild unserer Menschenrechtsorganisation. Er malte es nach dem Ende des Vietnamkrieges und nach dem blutigen Putsch Pinochets in Chile, aber er schlug einen weiten Bogen in Geschichte und Gegenwart, um Menschenrechte einzuklagen und ihren Missbrauch anzuprangern. Dafür nutzte er die sakrale Pathosform des Triptychons und seine Erfahrungen in der Simultanmalerei. Auf der Mitteltafel wird ein Vietnamese – mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebunden wie an einen Pfahl – zum Gleichnis für ein geschundenes Volk. Er hängt weit nach vorn und ringt mit dem Tod. Doch die innere Spannung seines Körpers macht ihn zum Symbol kraftvollen Widerstands. Die abwehrende Geste eines abgeschossenen US-amerikanischen Piloten, der mit gekreuzten Armen die Augen vor seiner Schuld, vor seinem Verbrechen verschließt, wirkt hilflos. Sein Mordwerkzeug ist zerstört. Die Bildtafel brennt in den Farben des Infernos, und diese flammenden Farben wirken in die anderen Bildtafeln hinein. Hinweise auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse, auf die zerschlagene Gitarre Victor Jaras, auf Menschenversuche und Folter, auf die Zerstörung kultureller Werte provozieren auf der linken Seitentafel die ganz aktuelle Forderung nach der Notwendigkeit von Kriegsverbrechertribunalen nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien, nach massenhaften »Kollateralschäden« – auch in Afghanistan heute, wo erst vor wenigen Wochen, am 4. September, in der Nähe von Kundus Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, auf Anforderung eines deutschen Oberst von Bomben zerfetzt wurden und verbrannten. Im unteren Teil der rechten Tafel quillt aus dem Leib eines umgestürzten Trojanischen Pferdes sein todbringender Inhalt. »Friedensmission« nannte sich der Mord an friedlichen Menschen bei der Bombardierung der Brücke von Varvarin. Die Predella beschwört noch einmal das grausige Ende des deutschen Faschismus. Das Bild erzwingt Gedankenketten, wie sie uns ständig beschäftigen. Es ist heute so zeitgemäß wie damals.

Ein ebensolches Programmbild schuf Walter Womacka. Hier wird weniger assoziiert, doch mit gleicher Wucht angeklagt. Es zeigt eine Beweinungsszene mit einem direkten Bezug auf die Ereignisse des Aggressionskrieges in Jugoslawien. Ermordete liegen im Vordergrund, davor eine trauernde, verzweifelte Frau, im Hintergrund die Szene eines Massakers vor brennenden Ruinen. Groß und bildbestimmend drängt sich als ein Gegenstück zum erschreckenden Bildinhalt eine blaue, in Schönheit gemalte Rose hervor. Die blaue Blume ist das Zeichen der Dichtung im Roman »Heinrich von Ofterdingen« von Novalis; sie wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Symbol der romantischen Poesie und ihrer auf das Unendliche gerichteten Sehnsucht. Diese bildnerische, ganz und gar unkriegerische Metapher steht im Fadenkreuz eines elektronisch geführten Krieges. Ihr droht Vernichtung, wenn sie nicht geschützt wird. Für die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde wurde sie zum sinnstiftenden Zeichen.

»Kassandra sieht ein Schlangenei« nannte Heidrun Hegewald ihr eindringliches Gemälde. Um den tiefen, menschenbezogenen Sinn des Dargestellten zu ergründen, ist unser Wissen über antike und christliche Mythologie ebenso gefragt wie unsere Fähigkeit, die Symbolik ganz gegenwärtiger Dinge zu erfassen. Von den Siebziger- bis zum Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts tauchte die tragische Frauengestalt Kassandra in den Künsten der DDR, nach Heidrun Hegewald auch bei Christa Wolf,  immer wieder auf – als Warnerin vor einer nuklearen Katastrophe, als Mahnerin, die offensichtlichen Widersprüche der eigenen Entwicklung bei Strafe des Untergangs nicht zu überdecken. In der Überlieferung konnte Kassandra Künftiges richtig voraussagen, doch niemand glaubte ihr. Dieses Bild, 1981 entstanden, ist ein Appell gegen immanenten und aufkommenden Faschismus, gegen die Vision eines totalen Weltenbrandes, ist eine ästhetische und intellektuelle Provokation. In einem fahlen, verheißungsvollen Licht erkennt man den Hurraschrei eines Glatzköpfigen, das gläubige, faszinierte Aufblicken einer Schwangeren. Stärker farbig akzentuiert, kleinwüchsig, flachköpfig, ledergeschnürt, die Augen unter einer SA-Mütze verborgen, trägt ein eigenartiges Mischwesen aus Mann und Frau mit dem Gesicht eines Hitler ein Schlangenei ins Bild. Noch zwängt sich die Schlange in die zum Zerreißen gespannte, durchsichtige Haut. Bald wird sie Unheil verbreiten und mit hypnotischer Energie Doppelzüngigkeit und Hinterlist in die Welt bringen. Ihr giftiger Biss wird die Menschen willenlos machen und ihr kritisches Denken lähmen. Niemand erkennt die Gefahr. Der Schrei der Kassandra verhallt ungehört. Der Massenwahnsinn ist stärker als die Weissagung der künftigen Katastrophe. Kassandra weiß um die Nutzlosigkeit ihres Tuns, doch sie kann nicht anders; sie muss ihrer Verantwortung gerecht werden. Mit einer Schutzgeste verhindert sie, dass das Kind auf ihrem Arm das Verderben bringende Schlangenei wahrnimmt. Es hält in der Hand einen Papierkranich, wie ihn das japanische Mädchen Sadako Sasaki hundertfach faltete, bevor es an den Folgen der Atombombenabwürfe starb. Diese Malerei ist anschauliches Denken; erwartet wird, dass der Betrachter solcherart Herausforderung annimmt. Ästhetisches und Ethisches konkretisieren sich im Bild als weltanschauliches Bekenntnis.

In den Fünfzigerjahren zeichnete und malte Willi Sitte u. a. an einer Bildfolge, die die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in der tschechischen Gemeinde Lidice und andernorts zum Inhalt hatte. Mit dem Gemälde »Massaker II« und anderen Werken arbeitete er sich an diesen komplexen Stoff heran. Er war damals in einer für ihn wichtigen Phase der Auseinandersetzung mit dem Gedanken- und Formenreichtum der Kunst Pablo Picassos, Renato Guttusos und der italienischen Realismo-Bewegung. Das war für ihn kein formaler Akt, sondern eine Frage der Haltung, die ihm in den Jahren der Formalismus-Diskussion viel Ärger einbrachte, den heute niemand mehr versteht. Wie Picasso sein großes »Guernica«-Bild so und nicht anders malte, weil das grausige Geschehen ebendiese Form verlangte, so kam auch Willi Sitte zu bildnerischen Entscheidungen, die wie kaum andere in seiner Zeit geeignet waren, über Betroffenheit hinaus zu wirken. Er studierte sehr genau die Dokumente und fand eine komplexe, streng und spannungsvoll formulierte künstlerische Sprache, die uns auch jetzt tief berührt und uns auffordert, solche Verbrechen nie wieder zuzulassen.

Walter Womackas Gemälde »Verwundeter Stier« existiert in mehreren Varianten. In dieser Fassung von 1997 wird die ganze Tragweite des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989/90 unmittelbar erlebbar. Eine zerfetzte Zeitung mit einem Foto Gorbatschows ist zu sehen, in einer wild bewegten Zuschauermenge das Porträt Che Guevaras, eine Coca-Cola-Werbung, der Tanz um das Goldene Kalb, Zeichen der Vermarktung von Liebe und Sexualität, eine Gruppe bewaffneter Polizisten. Im Zentrum aber drängt sich keilförmig ein Stier unserer Blickrichtung entgegen. Er kämpft nicht mehr und gibt sein Leben auf. Noch steht er. Unter den Banderillas strömt Blut aus seinem Nacken. Maul und Nüstern triefen. Die Muleta reizt ihn nicht mehr. Der Tod wird ihm zur Erlösung. Schwer und schwarz wartet er auf den Degen, den ihm der Espada frontal zwischen die Schulterblätter stoßen wird. Die gesichtslose Masse hinter der sicheren Bande tobt. Aus der Erinnerung steigt wieder Picassos »Guernica« auf. Dort erhebt sich ein Stier wie ein schützender Fels über einer verzweifelt schreienden Mutter, in deren Händen ein totes Kind hängt. Seit 1937 hat der Stier seine vorwiegend mythische Bedeutung erweitert. Er wurde zum Topos für ein verletztes, aber nicht erniedrigtes Volk. Und Walter Womacka griff genau 60 Jahre später erneut zu diesem Zeichen. Ein solch sorgenvoller, bis zur Bitternis reichender Grundton liegt über vielen Arbeiten, die er in den letzten beiden Jahrzehnten schuf. Jene, die ihn als Schönmaler abwerten wollen, sollten genauer hinsehen. Vieles weist nun stärker in ein Erschrecken, in Nachdenklichkeit über Gefährdungen, über das Scheitern von Hoffnungen und in direkte, für wache Sinne entschlüsselbare Warnungen.

Es war ein Grundzug der in der DDR entstandenen Kunst, dass als Teil ihres Traditionsbewusstseins immer wieder Bezug genommen wurde auf die christliche Ikonographie. »Die Mutter mit dem Kinde« von Heidrun Hegewald ist ein Beispiel dafür. Ein Madonnen-Motiv und das Kreuz bestimmen die Komposition. Mit einer unendlich zarten Behütungsgeste trägt sie das soeben Geborene, dessen Hülle noch anmutet wie der Rest einer Fruchtblase. Ihr Blick ist voller Misstrauen. Das Mutter-Kind-Motiv wird vom Kreuz durchdrungen. Seine Symbolik ist ambivalent. Als Fensterkreuz wäre es ein Zeichen für innen und außen, für Geborgenheit und erhofften Schutz vor Bedrohung; als Fadenkreuz ist es ein direkter Hinweis auf unmittelbar bevorstehenden Mord. Beide Sinngebungen sind gemeint. Ein gleißendes Licht streift die Baumgruppe und trifft das Kind. Aus dem Himmel dringt tief leuchtendes Rot und lässt die Frauengestalt im Feuerschein glühen. Diese Schönheit aber trügt. Erkennt man im feurigen Rot nicht nur die Abendstimmung, sondern das Unheil bringende Signal, wird auch die drängende kalkige Helle der Gegenseite vom möglichen Erlösungszeichen zur alles verschlingenden nuklearen Gefahr. Eines im Anderen, Hoffnung und Schrecken, bildgewordene Dialektik.

Solch dialektisches Denken prägt auch das Stillleben »Helm mit Lilien«, das Walter Womacka 1984 malte. Es setzt die Überlieferung der Vanitasbilder der Niederländer fort, in denen bestimmte Gegenstände zu Symbolen wurden. Hier stehen sich Zeichen des Todes – ein zerschossener, verrosteter Stahlhelm und der knöcherne Schädel eines Stiers – und des Lebens gegenüber. In der Volkssymbolik ist die Lilie nicht nur Zeichen für Reinheit, sondern auch für den bleichen Tod. Natürlich hatte Walter Womacka alles das im Hinterkopf, als er dieses Bild malte; zugleich lässt er uns an seiner Freude an meisterhaft komponierten Bildelementen teilnehmen. Die Botschaft heißt: Nie wieder Krieg! So ist es ein Beispiel dafür, wie Kunst aus Imaginationen entsteht, die uns alle fesseln und in die wir unser Wissen und unsere Erfahrungen einbringen.

In Heidrun Hegewalds Gesamtwerk ist unverfälschte, produktive Betroffenheit ständig präsent; sie ist nicht zur Floskel verkommen wie bei Politikern, die Betroffenheit zelebrieren, wenn es um Verbrechen an Juden, um Amokläufe oder besonders auffällige Opfer neofaschistischer Gewalt geht, und dann ihre Tagesordnung fortsetzen. Und wenn in dieser Hegewaldschen Rigorosität Verehrung und Huldigung aufscheinen – so wie in ihrem Rosa-Luxemburg-Bildnis -, so gehört auch das zu ihrem künstlerischen Credo. In einer Reflexion über dieses Bild schrieb sie, sie könne nur ihre eigene Rosa malen; jeder, der sie betrachte, müsse sich die Frage stellen, ob es auch seine Rosa sei. Nach allem, was wir von oder über Rosa Luxemburg wissen, kann man diese Frage nur bejahen. Das Bild hatte – durchaus vergleichbar z.B. mit dem, was Willi Sitte in den Fünfzigerjahren oder Walter Womacka nach der politischen Rückwende widerfuhr – ein bitteres Schicksal: Als Auftragswerk des Ministeriums für Kultur der DDR sollte es für die X. Kunstausstellung in Dresden geschaffen sein. Es fand aber keine Abnahme statt; das Bild wurde der Jury nicht vorgestellt und es landete schließlich im Depot des Staatlichen Museums Schwerin. Von dort holte ich es für meinen Teil der Berliner Kunstkritikerausstellung »Der eigene Blick«, die November/Dezember 1988 im Ephraim-Palais stattfand. So war es vor dem Ende der DDR wenigstens einmal öffentlich zu sehen. Dass es ängstlich verborgen werden sollte, hängt sicher damit zusammen, dass selbsternannte Bürgerrechtler das verkürzte Luxemburg-Zitat von der Freiheit, die stets die Freiheit des Andersdenkenden sei, für ihre Zwecke missbraucht hatten. Man sollte diesen Luxemburg-Kennern die Frage stellen, ob das Zitat heute noch gilt. Das Luxemburg-Bildnis Heidrun Hegewalds gehört geistig zu uns. Vielleicht kann es eines Tages das Schweriner Depot verlassen.

Nun schließt sich der Kreis. Ein Bild Willi Sittes soll uns noch einmal in seinen Bann ziehen. Es entstand als Studie zu seinem großen Bild »Mensch, Ritter, Tod und Teufel« und zeigt einen Geschundenen, von dem nur Kopf, Oberkörper und Oberarme zu sehen sind – schmerzvoll ins Bildformat gepresst. Ein Kreuz ist nicht vorhanden. Dennoch erkennt jeder sofort die Ikonographie des Gekreuzigten. Ein Haupt ohne Dornenkrone, doch mit zerschossener Zielscheibe auf der Stirn hängt dem Betrachter entgegen, schwer wie der blutverkrustete Körper, den es in die Tiefe zieht. Auch die verdeckten, ausgelöschten Augen sind nach unten gerichtet; sie können nicht mehr – Erlösung suchend – nach oben blicken. Der Mund des Sterbenden ist halb geöffnet; die Unterlippe hängt herunter. Heftige, vibrierende, bis ins Tachistische gesteigerte Pinselhiebe sind Ausdruck höchster Dramatik, unerträglicher Schmerzen. Dieses Bild des Todes nutzt das zwei Jahrtausende alte »ecce homo« (Siehe, ein Mensch!) als universales Zeichen. Mancher wird es in religiöser Denkart als modernen Kruzifixus verstehen; anderen kann es ein Memento für verübte Gräuel sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Immer aber ist dieses Bild die Darstellung eines Menschen, an dem sich Unmenschlichkeit austobt.

Ständig werfen alle drei Künstler in ihren Werken Fragen auf – an sich selbst und an uns: Fragen nach den Ursachen von Verbrechen, Fragen nach dem Glück, hartnäckig wiederholt gegen substanzlose Glücksverheißungen der Gegenwart, nach der Verantwortung für sich und andere, nach dem ehrlichen Umgang mit uns selbst. Solche Fragen sind unverzichtbarer Teil dessen, was ihre Kunstwirkung ausmacht, nicht mehr und nicht weniger. Für jeden von ihnen

ist die künstlerische Form als kultiviertes Handwerk das Maß und der Wert, mit dem ein großes Anliegen transportiert wird, ist sie Ausdruck des ganz Persönlichen, des im ureigensten Sinne Menschlichen, das schließlich Liebe heißt. Und hier beginnt für uns, die wir eine gemeinsame Geschichte haben, die Suche nach Werten, die künstlerischer Arbeit – und nicht nur ihr – in der unmittelbaren Gegenwart gemäß sind. Schiller stellte, als er 1795 die »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« schrieb, dieselbe Frage: »Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz …; er aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen …, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.«

Mit der heutigen Verleihung unseres Menschenrechtspreises möchten wir Euch, liebe Heidrun, lieber Walter und lieber Willi, zugleich ehren und Euch Dank sagen; Dank für Euer bisheriges Lebenswerk, Dank für Eure enge Verbundenheit mit unserer Gesellschaft und mit allen, die ihr nahe stehen, Dank für Euer künstlerisches und publizistisches Wirken für die Menschenrechte. Unser Dank gilt ebenso Euren Lebenspartnern, die Euch uneigennützig zur Seite stehen, und allen, die mit Eurem Werk engagiert verbunden sind.

Wir lieben und achten Eure Arbeit, weil wir sie brauchen in dieser Zeit.

(1) Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939, hrsg. von Peter de Mendelssohn, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1980, S. 868